Letzte Woche habe ich an einem Gymnasium drei Workshops für Schülerinnen der 9. Klasse zum Thema Sexismus geleitet. Vieles war anders, als ich es erwartet hatte. Ich habe einen genaueren Eindruck gewonnen, welche Fragen Mädchen dieser Altersgruppe beschäftigen und was tatsächlich wichtig, aber auch besonders schwierig ist in der Vermittlung.
Da einige meiner FollowerInnen auf Social Media an meinen Erkenntnissen interessiert sind, fasse ich das hier zusammen.
Bild: Daniel Sampaio / Pixabay
Mädchen sind heute selbstbewusst
Zunächst: Was ich unterschätzt habe ist, wie selbstbewusst die Schülerinnen ihre Meinung vertreten und dass sie sich bereits intensiv mit Fragen der Gleichberechtigung beschäftigt haben. Sie hatten ausgefeilte Argumente in der Diskussion und es ist eine besondere Herausforderung, sie von anderen Ansichten zu überzeugen. Unterschätzt habe ich auch, wie sehr sie sich als Gemeinschaft empfinden und sich bereits mutig zur Wehr setzen gegen Übergriffe von Schülern und Lehrern.
Das Selbstbewusstsein der Mädchen hat mich sehr beeindruckt und gefreut.
Mein ursprüngliches Ziel war, ihnen über die Workshops Gemeinschaftssinn und die Stärke der Frauensolidarität zu vermitteln. Das war aber gar nicht unbedingt die wichtigste Baustelle, denn sie helfen sich bereits und verteidigen sich gegenseitig. Auch das ist positiv.
Die wichtigste Baustelle: Was ist Feminismus?
Die wichtigste Baustelle ist, Inhalte und Ziele von Feminismus zu vermitteln und für Feminismus zu begeistern. Es fehlt also die Grundlage für eine überzeugte Haltung pro Frauen und Frauenrechte.
Für die meisten Mädchen ist Feminismus eine Bewegung, die die Gleichstellung der Geschlechter zum Ziel hat. In den Gesprächen wurde aber deutlich, wie verfänglich und beschränkt diese Idee von Feminismus ist und wie sehr sie Mädchen und Frauen in die Irre leitet.
Gleichstellung interpretieren Mädchen so, dass sie Jungen mitdenken sollten und dass auch Jungen unterdrückt werden.
Mädchen unterschätzen strukturelle Machtverhältnisse
Wir diskutierten unter anderem über den Fall Amber Heard / Johnny Depp, über Germany’s Next Top Model oder Rapper-Videos. Ich betonte, dass ich als Feministin parteiisch für Frauen bin und auf der Seite der Frauen stehe. Im Fall von Amber Heard konnten die meisten Mädchen das nicht nachvollziehen. Sie empfanden Heard als Lügnerin und Täterin. Die strukturelle Ebene war ihnen schwer zu vermitteln. Sie waren ebenfalls sehr schwer dafür zu sensibilisieren, dass Frauen in so einem Gerichtsprozess ganz anders beobachtet und bewertet werden als Männer und dass Männern viel mehr Spielraum und Fehler zugestanden werden. Was der tatsächliche Grund des Prozesses war – dass Heard nicht über ihre Erfahrungen mit der Presse sprechen darf – spielte kaum eine Rolle. Für die meisten Mädchen war Heard ganz klar die Schuldige und die Versagerin des Prozesses – auch wenn Depp nachweislich nicht nur Heard, sondern auch andere Frauen geschlagen hatte.
Bei Germany’s Next Top Model und Rapper-Videos stand für die meisten Mädchen fest, dass Mädchen sich ja selbst aussuchen, bei GNTM oder Rapper-Videos teilzunehmen und daher selbst dafür verantwortlich seien, was ihnen dort geschieht. Sie waren der Meinung, dass die Mädchen erniedrigende Challenges, Kleidung oder Ansprache ja ablehnen könnten oder einfach den Dreh beenden könnten. Wenn sie sich sexistisch kleiden, sei es ihre eigene Entscheidung. Schließlich hätte ich ja soeben gesagt, dass jedes Mädchen alles tragen dürfe und es keine Rechtfertigung gebe, dass ein Junge sie anfasse oder blöd anmache.
Auch hier wird also unterschätzt, wie sehr die Machtverhältnisse in so einem Job die Möglichkeiten der Mädchen und Frauen bestimmen und beschränken und dass es keine Lösung sein kann, die Verantwortung für eine Verbesserung auf das einzelne Mädchen abzuwälzen. Insgesamt fehlt eine Sensibilität dafür, wie strukturelle Unterdrückung funktioniert und dass sich das einzelne Mädchen nicht einfach aus diesen Verhältnissen hinausbewegen kann.
Mädchen denken Jungen mit
Es fehlt ein Bewusstsein dafür, wie leicht Mädchen und Frauen über ihre Empathie und ihren Altruismus zu kapern sind, den sie überwiegend für andere kultivieren – nicht für sich selbst.
In sehr vielen Diskussionen ging es um die Jungen und wie die Jungen mitzudenken seien. Ich musste bei jeder Gruppe fragen, ob sie glauben, dass die Jungen im Nebenraum in dieser Form so an die Mädchen denken und für ihre Belange eintreten und ob die Jungen daran interessiert sind, dass Mädchen gleiche Chancen haben und von Jungen nicht sexistisch behandelt werden. Als ich Sebastian fragte, ob das auch in der Jungengruppe Thema war, verneinte er.
Mädchen fangen Sexismus auf
Jungen sind überwiegend damit beschäftigt, ihre Verantwortung für Sexismus abzuwehren. Mädchen sind wiederum damit beschäftigt, Sexismus der Jungen aufzufangen.
Dabei haben sich viele angewöhnt, sexistische Sprüche, Witze und Verhaltensweisen der Jungen und Männer nicht zu ernst zu nehmen oder zu ignorieren. Viele Mädchen sagten, das sei ja nicht so schlimm oder das sei eben so. Genau genommen bedeutet das aber, dass Mädchen die Aufgabe übernehmen, das unangemessene Verhalten der Jungen zu verdrängen. Sie müssen also lernen, unsensibler zu werden, damit sie mit den Übergriffen zurechtkommen, während die Jungen überwiegend freie Fahrt haben und gar nicht über ihr Verhalten nachdenken.
Den Mädchen ist durchaus bewusst, wie belastend sie den Sexismus der Jungen empfinden und dass es sie stört. Aber sie fühlen sich gleichzeitig ohnmächtig dagegen vorzugehen. Hier war mir wichtig ihnen zu vermitteln, dass sie für dieses Verhalten nicht verantwortlich sind und dass sie eigentlich frei haben müssten. Es ist an den Jungen, ihr Verhalten zu ändern. Und obwohl ich eine Abgrenzungs-Übung mit ihnen gemacht habe, ist meine Meinung, dass es nicht Aufgabe der Mädchen sein sollte, Selbstverteidigung zu lernen. Es sollte gar nicht nötig sein.
Mädchen brauchen echten Feminismus
Da Sebastian Tippe und ich vor haben, diese Workshops im Team auch weiterhin anzubieten, möchte ich bei nächster Gelegenheit den Schwerpunkt setzen, Feminismus zu vermitteln.
Leider fällt der seit einigen Jahren propagierte „All-incl-Feminismus“ (intersektionaler Feminismus) bei diesen Mädchen auf fruchtbaren Boden. Ähnlich fatal wird sich das von Sven Lehmann angestrebte queerfeministische Bildungsprogramm an Schulen auf Mädchen auswirken. Schon jetzt sind diese Mädchen viel zu sehr auf das Wohlergehen von Jungen ausgerichtet und bemühen sich laufend um Gerechtigkeit für Jungen. Sie sehen nicht, wie sehr das auf ihre Kosten geht.
Mädchen sollten darin bestärkt werden, dass es richtig und notwendig ist, dass sie sich um ihre geschlechterspezifischen Belange kümmern und ihre Interessen in den Mittelpunkt stellen. Sie sollten lernen, dass Feminismus die Befreiungsbewegung der Mädchen und Frauen ist und dass es eben nicht in erster Linie um Gleichstellung geht. Jungen und Mädchen sind nicht gleich. Mädchen haben schon allein körperlich ganz andere Erfahrungen als Jungen. Wir leben in einer Welt, die auf Jungen und Männer ausgerichtet ist und Jungen und Männer begünstigt.
Ich möchte inspirieren, eine Welt zu denken, die auf Mädchenbelange ausgerichtet ist. Ich möchte dazu ermutigen, dass Mädchen sich auf ihre Themen konzentrieren, sich regelmäßig dazu austauschen und gemeinsam und solidarisch Widerstand aufbauen gegen frauen- und mädchenfeindliche Entwicklungen.
Wichtig ist also, dass Mädchen Sensibilität und Empathie für sich selbst entwickeln, strukturelle Macht- und Unterdrückungsverhältnisse verstehen und den Mut entwickeln, radikal für sich selbst einzutreten.
P.S. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an Christina Mundlos und Sebastian Tippe, die mich für die Leitung der Mädchen-Workshops vorgeschlagen hatten.
Sehr informativ und - wie immer - gut beschrieben. Dass Frauen Fehler und Übergriffe von Männern mitbedenken und wenn möglich klammheimlich korrigieren, ist ein Strukturmerkmal unserer Gesellschaft. Sie kann sich seit Jahrhunderten darauf verlassen und tut es auch. Frauen haben das völlig verinnerlicht und geben das auch so in der Erziehung weiter. (Lass Papa seinen Spleen, wir wissen was richtig ist). Ich betrachte diese Strategie als einzig funktionierende Lebensversicherung für Frauen in toxischen Beziehungen. Das macht es Frauen auch so schwer, uneingeschränkt solidarisch zu ihresgleichen zu sein. Selbstschutz geht dann vor Schwesternschutz.
Ich denke, diese sozialpsychologische Ambivalenz und ihre Auswirkungen müsste man noch stärker herausarbeiten.
Dass grüne Frauen derzeit Männer offen als Frauen bezeichnen, hängt vermutlich mit dieser unbewussten Überlebensstrategie zusammen. Lieber Spleen akzeptieren als Wut und Vernichtung riskieren. Ein schreckliches Dilemma.
Umso mehr weiß ich Ihre großartige Arbeit zu schätzen und zu würdigen. Machen Sie weiter! Ich werde Sie wo immer ich kann unterstützen!
Wolfgang Becker-Freyseng, Dipl.-Psych. und Sozialarbeiter.
Deine Einschätzungen decken sich zu 100% mit meiner Erfahrung als Mutter eines inzwischen 15jährigen Mädchens. Nur dass es mir pubertätsbedingte Abnabelungsprozesse zusätzlich erschweren, ein Verständnis für strukturelle Machtverhältnisse zu vermitteln. Meine Tochter ist, wie viele Mädchen, ein sehr liebevoller und integrativer Mensch. Das macht es schwer, ihr zu vermitteln, was gerade passiert. Ich würde mir wünschen, dass auch sie so einen Workshop besuchen kann. "Für Mädchen": wir müssen schauen, dass es eine Vielzahl an Workshops gibt, die ein Gegengewicht zu SCHLAU darstellen.